Präventionsarbeit muss noch gezielter werden
Sep. 2011Health and culture
HIV/STI und Migration. Wie kann die Prävention für Migrantinnen und Migranten bezüglich HIV und anderer sexuell übertragbarer Krankheiten (STI) verbessert werden? Wo bestehen Wissenslücken, wo Handlungsbedarf? Eine Studie des Bundesamts für Gesundheit (BAG) ist diesen Fragen nachgegangen.
Mehrere Studien belegen: Die Migrationsbevölkerung ist weniger gesund als die einheimische Bevölkerung. Ein Grund dafür sind soziale, kulturelle oder sprachliche Hindernisse, die den Migrantinnen und Migranten den Zugang zu Präventionsangeboten und medizinischen Leistungen erschweren. Präventionsinformationen bezüglich HIV und anderer sexuell übertragbarer Krankheiten (STI; «Sexually Transmitted Infections») müssen also zielgruppengerecht aufbereitet und vermittelt werden. Dies gilt besonders bei Migrantinnen und Migranten aus der Subsahara-Region, wo HIV und andere STI besonders stark verbreitet sind. In der Schweiz betrafen 16 bis 23 % der Neuansteckungen der letzten fünf Jahre diese Migrationsgruppe. Zusammen mit Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), drogeninjizierenden Personen, Sexworkern und Gefängnisinsassen gehören sie der Gruppe mit einer stark erhöhten HIV/STI-Prävalenz an.
Sensibilisieren, informieren, testen
Das Nationale Programm HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen (NPHS) 2011–2017 hat für diese Gruppe folgende Präventionsziele formuliert: Sie soll verstärkt sensibilisiert und informiert sowie auf HIV/STI-Infektionen getestet und behandelt werden. Um diese Ziele zu erreichen, bedarf es neuer Kenntnisse und Massnahmen. Die BAG-Studie «Le VIH/sida et les autres infections sexuellement transmissibles auprès des populations migrantes. Un état des lieux» von Lydia Manzanares unter der Leitung von Luciano Ruggia hat aufgrund von Literaturstudien und Experteninterviews den Forschungsbedarf und Ideen für neue wirksame Präventionsmassnahmen bei Migrantinnen und Migranten eruiert.
Drei Forschungsfelder
1. Daten zur Verbreitung von STI unter Migrantinnen und Migranten: Für adäquate Massnahmen im Kampf gegen HIV/STI, muss zuerst das Ausmass des Problems geklärt werden. Eine epidemiologische Studie zur Verbreitung von HIV/STI respektive zu Ko-Infektionen mit HIV und anderen STI unter der Migrationsbevölkerung hat deshalb erste Priorität. Zudem sollte ein Fragebogen zum Schutzverhalten entwickelt werden, der nicht nur bei HIV-, sondern auch bei allen andern STI-Tests ausgefüllt wird.
2. Zusammenhang zwischen Gesundheit und Armut: Angesichts ihrer zum Teil prekären und unsicheren Lebensverhältnisse zählen Migrantinnen und Migranten HIV/STI nicht zu den dringlichsten Problemen. Will man die Testquote in dieser Gruppe erhöhen, müssen niederschwellige Testangebote geschaffen werden, und es muss über neue Finanzierungsmöglichkeiten nachgedacht werden. Bis jetzt müssen die Testpersonen die Kosten selbst tragen.
3. Zusammenhänge zwischen Gesundheit, Migrationspolitik und Ethik: Zu klären ist auch eine Reihe von rechtlichen, finanziellen und humanitären Fragen. Was passiert zum Beispiel, wenn eine Person ohne Aufenthaltsgenehmigung positiv auf HIV/STI getestet wird? Wie geht das Gesundheitswesen mit Menschen um, die trotz einer Wegweisung in der Schweiz bleiben? Insbesondere muss erforscht werden, wie die Wahrscheinlichkeit einer Ausschaffung die Testbereitschaft von Migrantinnen und Migranten beeinflusst.
Vorschläge für drei Aktionsfelder
1. Informationsmaterial: Das Informationsmaterial zur HIV/STI-Prävention muss noch gezielter den Codes und den gängigen Kommunikationsmitteln in dieser Gruppe angepasst werden. Vonseiten der befragten Fachleute gab es dazu eine Reihe von praktischen und kostengünstigen Ansätzen. Dazu gehören ein Fotoroman in verschiedensten Sprachen, der in Warteräumen von Arztpraxen oder Ämtern aufliegt, das Einbinden der Präventionsbotschaften in die Willkommensbroschüre des Bundesamts für Migration und ein Flyer mit allen Adressen der Teststellen des jeweiligen Kantons.
2. Testzentrum für STI: Die meisten befragten Akteure haben geäussert, dass ein Migrations-Testzentrum für STI (nicht nur für HIV) nötig wäre. Ein solches Zentrum ist sinnvoll,
die Umsetzung aber komplex. Eine realistische Option wäre, in bestehenden Testzentren den Migrantinnen und Migranten aus Hochprävalenzländern die entsprechenden Tests (z.B. HIV und Hepatitis) zu einem Vorteilspreis anzubieten.
3. Erreichbarkeit der Migrationsbevölkerung: Um die Aufmerksamkeit und Akzeptanz der Präventionsbotschaften zu erhöhen, gibt es zwei neue Ansätze. Erstens müssen noch mehr Übersetzerinnen und Übersetzer eingesetzt werden; hierbei ist die Frage der Finanzierung zu klären. Zweitens müssen die Informationen über STI unbedingt auch mögliche Probleme mit der sexuellen Reproduktivität beinhalten. Unbehandelte STI können zum Beispiel zu Sterilität oder Fehlgeburten führen. Menschen aus der Subsahara-Region reagieren auf solche Gefahren besonders sensibel. Deshalb können Informationen über mögliche Konsequenzen von STI das Präventionsverhalten bei dieser Gruppe stark verbessern.
Fazit: Der Zugang für Migrantinnen und Migranten zu Gesundheits- und Pflegeangeboten muss weiter verbessert werden, um ihre Chancengleichheit zu gewährleisten. Chancengleichheit heisst in diesem Fall: das Recht auf gleiche Leistungen für gleiche Bedürfnisse (horizontale Chancengleichheit), aber auch das Recht auf spezifische Leistungen für (migrations-)spezifische Bedürfnisse (vertikale Chancengleichheit).
Die Studie «Le VIH/sida et les autres infections sexuellement transmissibles auprès des populations migrantes. Un état des lieux» ist in Französisch erhältlich und steht unter folgendem Link zum Download bereit:
http://www.bag.admin.ch/hiv_aids/05464/05484/05487/index.html?lang=de
Contact
Luciano Ruggia, Sektion Prävention und Promotion, luciano.ruggia@bag.admin.ch